DASEIN
(51° 30' nB 17° 28' öL)

schwarzer Punkt

Leben passiert jetzt.

Dies scheint die moderne Zivilisation zunehmend zu vergessen. Bundesregierungen planen Rentenbeiträge, Straßen und Infrastrukturen für das Jahr 2020. Genuntersuchungen lassen voraussichtliche Erkrankungen im Erwachsenenalter voraussehen. Dies ist mit ein Grund, warum Eltern, die ein behindertes Kind erwarten, immer häufiger auf das Austragen der Babies verzichten.

Wir schauen immer mehr fern – in die Zukunft ängstlich, in die Vergangenheit nostalgisch. Wo aber bleibt die Gegenwart?

Erfülltes Dasein in der Gegenwart.

»Beim Abendbrot lasen wir Zeitung oder starrten auf das Stück Butter zwischen uns. Wie immer...«

»Wenn Leben so ist, soll es nie aufhören.«

»Würde er so lieben wie ich, gäbe es nichts Schöneres, als nicht einzuschlafen.«

»Sie hätte geweint, er wäre noch ein wenig bei ihr gesessen und dann wieder abgereist.«

Sätze aus unterschiedlichen Romanen zeitgenössischer Autoren. Sie alle geschehen jetzt, genau jetzt. Sie sagen einfache Dinge aus und sind begrenzt auf ihren Augenblick. Und doch lassen sie ahnen, welche Geschichte hinter ihnen steckt und welche Möglichkeiten. Sie sind erfüllt vom Vergangenen und öffnen Perspektiven auf die Zukunft. Es sind Sätze auf dem »Grat der Gegenwart«, Sätze, die ganz da sind und wunderbar erfüllt. Seltene Sätze.

Zwölf Personen treten auf in einer Bahnhofshalle. An den Bahnsteig-Treppen hängen Schilder. Sie zeigen diese Sätze und geben Informationen. Richtungen in die Zukunft und in die Vergangenheit. An einem Ort, wo Vergangenes abgeschlossen und gleichzeitig Neues begonnen wird. Zwölf Personen treten auf und treten ab. In einer Bahnhofshalle.

Zwölf Personen treten auf. Jeder trägt in sich eine Geschichte. Er sagt seinen Satz. Einen richtungsweisenden Satz. Der Straßenmusikant, der einen Rettungsring schleppt und vom Schiff und der Liebe singt, die kommen wird. Wenn Leben so ist, soll es nie aufhören. Von den zwei betrunkenen Schönen nach einer heruntergekommenen Nacht. Würde er so lieben wie ich, gäbe es nichts Schöneres, als nicht einzuschlafen. Die einfache Putzfrau, die ihre Arbeit zwischen den Passanten tut, entgeistert auf ihren Besen starrt. Beim Abendbrot lasen wir Zeitung oder starrten auf das Stück Butter zwischen uns. Sie tut ihre Arbeit. Wie immer.

Zwölf Sätze hängen. Auf Tafeln. Zwei Wochen im Bahnhof. Sie geben Richtung, erzählen die Gegenwart, die Altes und Neues enthält. Sie halten an. Sie halten die Passanten an. Für einen Augenblick.